Ich seh, was du nicht siehst

So unterschiedlich nehmen wir unsere Umwelt wahr.

Jun 09, 2020

Alles blüht und in der Natur kann man gerade eine besondere Farbenpracht bewundern. Ob andere das Gelb des Löwenzahns aber genauso intensiv wahrnehmen wie Sie, ist nur schwer zu sagen. Denn das fertige Bild am Ende des Sehprozesses, kann sich – verursacht durch bestimmte Faktoren – von Mensch zu Mensch deutlich unterscheiden.

Um zu verstehen, warum ich seh‘, was Sie vielleicht nicht sehen, folgen wir einem Lichtstrahl vom Auftreffen auf das Auge bis hin zu dem Fertigstellen des Bildes im Gehirn.

Ich sehe was du nicht siehst

Am Anfang war das Licht

Sehen basiert auf Licht, über das wir Informationen zu unserer Umwelt erhalten: Über die Wellenlänge verrät uns das Licht etwas über die Farbe unserer Umgebung. So ist der Anteil von grünem und gelbem Licht an dem vom Löwenzahn reflektierten und für uns sichtbaren Licht besonders hoch. Warum für uns sichtbaren Licht? Nur eine geringe Bandbreite von Wellenlängen des Lichts ist für das menschliche Auge wahrnehmbar: UV-Licht besitzt beispielsweise eine sehr kurze Wellenlänge und befindet sich damit außerhalb des für das menschliche Auge sichtbaren Bereichs1 – im Gegensatz zu vielen Vögeln, die auch UV-Licht sehen können.2

Das Auge

Betrachten wir unseren Löwenzahn, treffen die von der Pflanze reflektierten Lichtstrahlen als Erstes auf eine Art Schutzschicht des Auges (Hornhaut) und gelangen durch die Pupille zur Linse. Die Augenlinse beugt das Licht so, dass die Lichtstrahlen als scharfes Bild auf den Hintergrund des Auges (Netzhaut) projiziert werden. Dort werden die Lichtstrahlen von einer speziellen Art von Zellen in Nervenimpulse umgewandelt und diese Signale ins Gehirn weitergeleitet.1 

Grafik Das Auge
Aufbau des Auges

Die Netzhaut kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich beschaffen sein und unsere visuelle Wahrnehmung – wie zum Beispiel das Farbsehen – daher variieren.

Unterschiede im Farbsehen

Dafür sind die in der Netzhaut gelegenen Zellen für das Farbsehen verantwortlich: die Zapfen. Der Mensch verfügt über drei unterschiedliche Typen an Zapfen, wobei jeder dieser drei Zelltypen durch eine bestimmte Lichtfarbe angeregt wird. Daher werden sie auch in Rot-, Grün- und Blauzapfen unterteilt. Trifft nun das gelbe Licht unseres Löwenzahns auf die Zapfen, werden etwa die Rot- und Grün-Zapfen angeregt und die entsprechenden Nervenimpulse an unser Gehirn weitergeleitet. Dort angelangt werden diese Signale kombiniert und von unserem Gehirn als Gelb interpretiert.3

Allerdings konnten Studien zeigen, dass die Anzahl und der Typus der Zapfen von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein können.4 Das bedeutet, dass man selbst und sein Co-Spaziergänger vielleicht gar nicht das gleiche intensive Gelb der Löwenzahnblüte bewundert.

Im Extremfall kann das soweit führen, dass ein Mensch beispielsweise über gar keine blauen Zapfen verfügt: Menschen mit der daraus resultierenden seltenen Blau-Gelb-Farbenblindheit können unter anderem nicht Blau von Grün und Gelb von Rosa unterscheiden.5 Für diese Menschen blüht der Löwenzahn dann rosa.

Altersbedingte Makuladegeneration

Aber auch Erkrankungen der Netzhaut können zu Beeinträchtigungen beim Sehen führen – wie etwa bei der altersbedingten Makuladegeneration (AMD). Dabei handelt es sich um eine Erkrankung der Makula (Gelber Fleck) – einer Fläche auf der Netzhaut, in der die zentrale Sehschärfe liegt und die eine besonders hohe Dichte an Zapfen aufweist. Daher ist diese Region besonders beim Sehen von feinen Details oder Farben wichtig.6

Kommt es zu einer krankhaften Veränderung des Gelben Flecks – wie im Falle der AMD – kann das Sehen erheblich beeinträchtigt werden. Die AMD existiert in einer trockenen und einer feuchten Form, wobei in der feuchten AMD Blutgefäße in den Bereich des Gelben Fleck einwachsen, die Blut oder Flüssigkeit absondern und im weiteren Verlauf zu einer Vernarbung dieses Bereichs führen können. Das hat zur Folge, dass ein blinder oder verzerrter Fleck in der Mitte des Sichtfelds entsteht oder Farben verblassen.7 Im Spätstadium kann das sogar dazu führen, dass beim Anschauen von Personen „das Gesicht fehlt“.8

Wenn Ihre älteren Familienmitglieder also zum Beispiel einen dunklen Fleck sehen, dort wo der schöne Löwenzahn sein sollte, diesen verzerrt wahrnehmen oder das intensive Gelb nicht mehr erkennen können, sollten diese umgehend einen Augenarzt zur Abklärung aufsuchen. Denn die Früherkennung und rasche und regelmäßige Behandlung einer feuchten AMD ist besonders wichtig, um das Sehvermögen zu erhalten.7

Das Gehirn

Als letzter Schritt im Sehprozess, interpretiert unser Gehirn alle als Nervenimpulse eingelangten visuellen Signale und kombiniert daraus ein sinnvolles Bild. So entstehen beispielsweise erst in diesem Schritt aus den 2-dimensional auf unsere Netzhaut projizierten Bildern 3-dimensionale Bilder, die uns den Eindruck von Raumtiefe vermitteln. Erst dadurch können wir uns auch in unserer 3-dimensionalen Umgebung zurechtfinden.9

Dieses Phänomen des Interpretierens von Bildern durch das Gehirn wird auch als unbewusster Schluss bezeichnet - ein unbewusster und reflexartiger Mechanismus, der in die Bildung von Seheindrücken involviert ist. Dabei vervollständigt oder interpretiert das Gehirn anhand von bereits bekannten Bildern die visuellen Signale aus dem Auge so, dass daraus „sinnvolle“ Bilder werden.10

Eine Folge dieses unbewussten Schlusses ist ein Phänomen, das als Farbkonstanz bezeichnet wird: Dabei interpretiert unser Gehirn die Farbe eines beispielsweise einfarbigen Objekts als einheitlich, obwohl Teile des Objekts unterschiedlich beleuchtet und so eigentlich heller oder dunkler als der Originalfarbton erscheinen.11

Das bedeutet für unseren Löwenzahn: Bewundern wir dessen gelbe Blüten, interpretiert unser Gehirn das Gelb der Blüte im direkten Sonnenschein als genauso gelb wie die Blüte, die durch ein anderes Blatt überdeckt im Schatten liegt – obwohl die schattige Blüte aufgrund der geringeren Beleuchtung objektiv gesehen viel dunkler ist.

In diesem Sinne sollten wir das nächste „Ich seh und seh, was du nicht siehst“ mit ganz neuer Sichtweise spielen!

Referenzen

  1. Cenek, Jiri & Šašinka, Čeněk. (2015). Cross-cultural differences in visual perception. Journal of Education Culture and Society. 2015. 187-206. 10.15503/jecs20151.187.206.
  2. Lind, O., Mitkus, M., Olsson, P., & Kelber, A. (2013). Ultraviolet vision in birds: the importance of transparent eye media. Proceedings. Biological sciences, 281(1774), 20132209. https://doi.org/10.1098/rspb.2013.2209
  3. American Academy of Ophthalmology. How Humans See in Color. https://www.aao.org/eye-health/tips-prevention/how-humans-see-in-color. Letzter Zugriff am 28. Mai 2020
  4. Mollon, O., Bosten, JM., Peterzell DH., Webster MA (2017). Individual differences in visual science: What can be learned and what is good experimental practice? Vision Research, 141 (4-15)
  5. National Eye Institute. Types of Color Blindness. https://www.nei.nih.gov/learn-about-eye-health/eye-conditions-and-diseases/color-blindness/types-color-blindness. Letzter Zugriff am 28. Mai 2020
  6. American Macular Degeneration Foundation. What is Macular Degeneration? https://www.macular.org/what-macular-degeneration. Letzter Zugriff am 28. Mai 2020
  7. Macular Society. Wet AMD. https://www.macularsociety.org/wet-amd. Letzter Zugriff am 28. Mai 2020
  8. Österreichische ophthalmologische Gesellschaft. Altersbedingte Makuladegeneration. https://www.augen.at/a-bis-z-der-augengesundheit/altersbedingte_makuladegeneration.php. Letzter Zugriff am 28. Mai 2020
  9. Shimojo S., Paradiso M., Fujita I. What visual perception tells us about mind and brain. Proceedings of the National Academy of Sciences Oct 2001, 98 (22) 12340-12341; DOI: 10.1073/pnas.221383698
  10. Helmholtz, H. Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig 1867.
  11. Foster DH. Color constancy. Vision Research 2007, 7 (51) 674-700; DOI: https://doi.org/10.1016/j.visres.2010.09.006