Zum Welt Multiple Sklerose Tag erörtern wir mit Dr. Kasra Shakeri-Nejad, warum es vor allem um Lebensqualität geht.

29. Mai 2019

Kaum ein anderes Krankheitsbild ist derart vielschichtig wie das der Multiplen Sklerose (MS). Um die Erkrankung besser zu verstehen, haben wir uns anlässlich des Welt MS Tages mit Dr. Kasra Shakeri-Nejad, Humanmediziner und Facharzt für klinische Pharmakologie bei Novartis, getroffen. Bei seiner Arbeit in der Erforschung neurologischer Erkrankungen liegt sein Fokus auf der klinischen Erprobung neuer Substanzen – und damit potenzieller Therapien von morgen.

Was passiert bei der MS?

«Bei der MS erfolgt eine Reaktion unseres Organismus auf etwas, was ihn eigentlich gar nicht bedroht. Es handelt sich um eine sogenannte Autoimmunerkrankung – eine Fehlsteuerung des körpereigenen Immunsystems. Im Fall von MS sind es die isolierenden äusseren Schichten unserer Nervenfasern im Zentralnervensystem, die sogenannten Markscheiden, die durch unsere Abwehrzellen angegriffen werden», erklärt Dr. Shakeri-Nejad. Es entstünden chronische, mitunter über das gesamte Zentralnervensystem – immerhin rund 100 Milliarden Nervenzellen – in Gehirn und Rückenmark verstreute Entzündungsherde. Das Resultat: Aufgrund der Ausdehnung und unterschiedlichen Position dieser Entzündungen variiere der Krankheitsverlauf bei Betroffenen stark. «Die Multiple Sklerose kann prinzipiell nahezu jedes neurologische Symptom verursachen, darunter etwa Sehstörungen (verschwommene Bilder, Doppelbilder), Taubheitsgefühle in Gliedmassen oder gar weitreichende Einschränkungen in der Muskelfunktion, aus denen weitere Symptome resultieren können. Diese Erscheinungen sind für sich gesehen aber wiederum nicht ausschliesslich mit MS assoziierbar, was eine Diagnose erschwert.»

Die Patientenperspektive – unschätzbare Bereicherung für die Forschung

Heute ist die Multiple Sklerose eine der meistverbreiteten neurologischen Erkrankungen bei jungen Erwachsenen in Mitteleuropa. Frauen sind durchschnittlich doppelt so häufig betroffen wie Männer, die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft spricht von rund 15.000 diagnostizierten Fällen. In Deutschland gibt es demgegenüber schätzungsweise mindestens 200.000 Patientinnen und Patienten, während Österreich rund 12.500 Erkrankte meldet.
  
Auf die Frage, wie denn der Tagesverlauf dieser rund 230.000 MS Betroffenen durchschnittlich aussehe, sagt der Humanmediziner: «Darauf habe ich keine präzise Antwort. MS ist eine Erkrankung mit zu vielen Facetten, als dass man sie auf einen Durchschnittspatienten herunterbrechen könnte. Sicherlich ist der Tagesablauf abhängig vom Krankheitsstadium und von der individuellen Verlaufsform der Indikation. Das Spektrum reicht hier interessanterweise von einem völlig unbeeinträchtigten Alltag (ähnlich wie bei Nichterkrankten) bei milden Verlaufsformen der MS bis hin zu signifikanten Einschränkungen der Lebensqualität, die über den Krankheitsverlauf hinweg spürbar zunehmen können.» Diese könnten vorübergehend während eines Schubes zu Tage treten, was Patientinnen und Patienten kurzfristig aus ihrem gewohnten Alltag werfe, oder von Dauer sein. Letzteres führe – in Abhängigkeit der individuellen Symptome – nicht selten zu Berufsunfähigkeit und der Notwendigkeit permanenter betreuender Unterstützung. Eine gänzliche Heilung der MS sei derzeit noch nicht möglich, jedoch habe man den Krankheitsverlauf und die Lebensqualität der Betroffenen seit einigen Jahren durch immensen Forschungsaufwand, ein zunehmend besseres Verständnis der Erkrankung und individuelle Massnahmen immerhin positiv beeinflussen können.

Doch es sei gerade diese Vielfältigkeit der Perspektiven von Patientinnen und Patienten, die die Forschungsarbeit bereichere und lenke. «Novartis nimmt seit vielen Jahren in der MS Forschung und der Entwicklung von Medikamenten eine führende Rolle ein. Wie auch in anderen Krankheitsbereichen besteht ein kontinuierlicher und transparenter Austausch zwischen Novartis und Patientenorganisationen sowie namhaften Experten, um sicherzustellen, dass wir die Perspektiven von Patienten, Pflegekräften und behandelnden Ärzten in unsere klinischen Entwicklungen miteinfliessen lassen. Ziel ist das Identifizieren und Verstehen der Bedürfnisse und Einschränkungen, mit denen unsere Patienten täglich konfrontiert sind», unterstreicht Dr. Shakeri-Nejad.
 «Wir brauchen Therapien, die die Lebensqualität der Patienten erhalten.»

Die MS Forschung habe in den zurückliegenden zehn bis 15 Jahren eindrucksvolle Fortschritte gemacht, die wesentlichen Herausforderungen lägen aus seiner Sicht aber nach wie vor in einem verbesserten Verständnis der Krankheitsmechanismen und der Erkrankungsursachen. «Es besteht nach wie vor ein hoher Bedarf an Therapieoptionen bei Patienten mit progressiver MS und schweren Verlaufsformen. Einen möglichen Ansatz könnten hier Kombinationstherapien darstellen», erläutert der Wissenschaftler und ergänzt: «Novartis selbst ist in Bezug auf Multiple Sklerose sehr solide aufgestellt und ist gemeinsam mit externen Kooperationspartnern in Klinik und Akademie auf verschiedenen Gebieten der Forschung und Entwicklung aktiv.»

Teamgeist und Forscherdrang für mehr Lebensqualität

Im Verlauf unseres Gesprächs und seiner Erläuterungen wird immer wieder zwischen den Zeilen deutlich, mit welcher Begeisterung der zweifache Vater von seinem Arbeitsbereich und den gemeinsamen Anstrengungen seines Teams spricht. Als wir auf die Vokabel Stolz zu sprechen kommen, winkt er ab: «Stolz ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein nicht ganz zutreffender Begriff. Ich freue mich sehr, dass ich meinen Beitrag dazu leisten kann, das Repertoire an Therapieoptionen für MS zu erweitern. Neben diesem übergeordneten Ziel ist es eine persönliche Triebfeder für mich, dass ich jeden Tag mit ausserordentlich brillanten, hilfsbereiten und kollegialen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in extrem innovativen Projekten arbeiten darf, dass wir voneinander lernen, dass wir uns gar gegenseitig mit unserem Enthusiasmus anstecken. Das macht den Reiz aus.» Für Wünsche und Träume bliebe selbst in diesem Szenario dennoch Raum: «Ich würde mich freuen, wenn wir die Multiple Sklerose mittelfristig in eine weniger bedrohliche chronische Erkrankung verwandeln könnten, indem es uns gelingt, den Patienten eine gleiche Lebenserwartung und Lebensqualität wie nicht erkrankten Menschen zu ermöglichen. Mein ganz persönlicher Traum wäre die Heilung der MS.»

 


 

Eine Krankheit mit Historie

  • 13. Jahrhundert: Erste Vermerke aus unverifizierten Quellen, die man aus heutiger Forschungssicht mit einer MS Erkrankung in Verbindung bringen könnte
  • Ca. 1820: Tagebucheinträge von Augustus Frederick d’Este, eines Enkels des britischen Königs George III., über den schubhaften Krankheitsverlauf der MS
  • Mitte 19. Jh.: Aufzeichnungen von William MacKenzie über einen 23-jährigen Patienten, der an Sehstörungen, zunehmenden Lähmungen sowie Sprechstörungen litt, sich jedoch zeitweise davon erholte
  • 1849: Erste MS Diagnose an einem lebenden Patienten durch den deutschen Arzt Friedrich Theodor von Frerichs
  • 1868: Umfassende klinische und pathologische Beschreibung des Krankheitsbildes durch den französischen Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot